"»Ich kann nicht«, sagte ich. »Ich kann es einfach nicht.« »Bist du
sicher?«, fragte er mich. »Ja, nichts täte ich lieber, als mich vor sie
hinzustellen und ihr zu sagen, was ich fühle. . . Aber ich weiß, dass
ich es nicht kann.«
Der Dicke setzte sich im Schneidersitz in einen dieser
fürchterlichen blauen Polstersessel in seinem Sprechzimmer. Er lächelte,
sah mir in die Augen, senkte die Stimme wie immer, wenn er wollte, dass
man ihm aufmerksam zuhörte, und sagte:
»Komm, ich erzähl dir eine Geschichte.« Und ohne ein Zeichen meiner Zustimmung abzuwarten, begann er zu erzählen.
Als ich ein kleiner Junge war, war ich vollkommen vom Zirkus
fasziniert, und am meisten gefielen mir die Tiere. Vor allem der Elefant
hatte es mir angetan. Wie ich später erfuhr, ist er das Lieblingstier
vieler Kinder. Während der Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier
sein ungeheures Gewicht, seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur
Schau. Nach der Vorstellung aber und auch in der Zeit bis kurz vor
seinem Auftritt blieb der Elefant immer am Fuß an einen kleinen Pflock
angekettet.
Der Pflock war allerdings nichts weiter als ein winziges Stück Holz,
das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Und obwohl die
Kette mächtig und schwer war, stand für mich ganz außer Zweifel, dass
ein Tier, das die Kraft hatte, einen Baum mitsamt der Wurzel
auszureißen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflock befreien und
fliehen konnte. Dieses Rätsel beschäftigt mich bis heute. Was hält ihn
zurück? Warum macht er sich nicht auf und davon? Als Sechs- oder
Siebenjähriger vertraute ich noch auf die Weisheit der Erwachsenen. Also
fragte ich einen Lehrer, einen Vater oder Onkel nach dem Rätsel des
Elefanten. Einer von ihnen erklärte mir, der Elefant mache sich nicht
aus dem Staub, weil er dressiert sei.
Meine nächste Frage lag auf der Hand: »Und wenn er dressiert ist, warum muss er dann noch angekettet werden?«
Ich erinnere mich nicht, je eine schlüssige Antwort darauf bekommen
zu haben. Mit der Zeit vergaß ich das Rätsel um den angeketteten
Elefanten und erinnerte mich nur dann wieder daran, wenn ich auf andere
Menschen traf, die sich dieselbe Frage irgendwann auch schon einmal
gestellt hatten.
Vor einigen Jahren fand ich heraus, dass zu meinem Glück doch schon
jemand weise genug gewesen war, die Antwort auf die Frage zu finden:
Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühester Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist.
Ich schloss die Augen und stellte mir den wehrlosen neugeborenen
Elefanten am Pflock vor. Ich war mir sicher, dass er in diesem Moment
schubst, zieht und schwitzt und sich zu befreien versucht. Und trotz
aller Anstrengung gelingt es ihm nicht, weil dieser Pflock zu fest in
der Erde steckt.
Ich stellte mir vor, dass er erschöpft einschläft und es am nächsten
Tag gleich wieder probiert, und am nächsten Tag wieder, und am
nächsten...
Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnisvollen Tages, das
Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt.
Dieser riesige, mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der Ärmste glaubt, dass er es nicht kann.
Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich
kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt. Und
das Schlimme dabei ist, dass er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft
hinterfragt hat. Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe
zu stellen.
»So ist es, Demian. Uns allen geht es ein bisschen so wie diesem
Zirkuselefanten: Wir bewegen uns in der Welt, als wären wir an Hunderte
von Pflöcken gekettet.
Wir glauben, einen ganzen Haufen Dinge nicht zu können, bloß weil
wir sie ein einziges Mal, vor sehr langer Zeit, damals, als wir noch
klein waren, ausprobiert haben und gescheitert sind.
Wir haben uns genauso verhalten wie der Elefant, und auch in unser Gedächtnis hat sich die Botschaft eingebrannt:
Ich kann das nicht, und ich werde es niemals können.
Mit dieser Botschaft, der Botschaft, dass wir machtlos sind, sind
wir groß geworden, und seitdem haben wir niemals mehr versucht, uns von
unserem Pflock loszureißen.
Manchmal, wenn wir die Fußfesseln wieder spüren und mit den Ketten
klirren, gerät uns der Pflock in den Blick, und wir denken: Ich kann
nicht, und werde es niemals können.«
Jorge machte eine lange Pause. Dann rückte er ein Stück heran, setzte sich mir gegenüber auf den Boden und sprach weiter:
»Genau dasselbe hast auch du erlebt, Demian. Dein Leben ist von der
Erinnerung an einen Demian geprägt, den es gar nicht mehr gibt und der
nicht konnte.
Der einzige Weg herauszufinden, ob du etwas kannst oder nicht, ist,
es auszuprobieren, und zwar mit vollem Einsatz. Aus ganzem Herzen!«" Jorge Bucay
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