"Eines
Tages spielte Claudia im Garten. Da entdeckte sie eine kleine schwarze
Raupe mit winzigen gelben Punkten.
»Iiiihh«, schrie sie, »ist die
eklig!«
Ihr großer Bruder Michael, der dazukam, sagte:
»Aber nein, die
ist ganz harmlos. Komm, wir suchen einen Behälter für sie! Du kannst
sie dann mit Brennnesseln füttern.«
Claudia
ließ sich überreden, lief ins Haus und holte ein großes Marmeladenglas. Vorsichtig brach
der Bruder einen Brennnesselstängel ab, legte ihn in das Glas und
setzte das Tierchen dazu. Über die Öffnung kam
ein Stück Seidenstrumpf mit Gummiband.
»Damit sie genug Luft bekommt«, meinte Michael.
Jeden Tag holte Claudia
ihrer Raupe frische Brennnesseln und sie beobachtete, wie das Tierchen
immer dicker wurde. Doch eines Morgens suchte sie ihre Raupe
vergeblich. Als sie das Glas immer wieder drehte, sah sie plötzlich ein
komisches braunes Gebilde an einem Stängel hängen, wie ein
zusammengerolltes verwelktes Blatt. Darunter ein paar schwarze Stückchen von
ihrer Raupe – klein und vertrocknet. Sie fing laut an zu weinen und
schrie:
»Meine Raupe ist tot, meine liebe Raupe!«
Michael kam herein und
tröstete sie.
»Schau«, sagte er, »das, was du siehst, ist nur eine Hülle,
so wie eine Haut. Was in der Raupe lebendig war,
ist hier drin«, und er zeigte auf das komische braune Ding.
»Aber es ist tot, es bewegt
sich doch nicht«, weinte das Mädchen.
»Es
sieht nur so aus«, sagte Michael geheimnisvoll.
»Hab
nur etwas Geduld und du wirst etwas Wunderbares erleben.«
Wenige Zeit später platzte
das braune Ding auf und nach langer Zeit kroch
zitternd ein Schmetterling heraus. Seine Flügel waren klein und schrumpelig.
Ganz aufgeregt beobachtete Claudia, wie er sie langsam entfaltete
und auf und ab bewegte. Er war so wunderschön, dass sie sich gar
nicht sattsehen konnte. Doch dann nahm sie den Strumpf vom Glas, öffnete das Fenster und der
schöne bunte Schmetterling flatterte hinaus in
den hellen Sonnenschein. Lange sah sie ihm nach und war richtig glücklich." aus Kurzgeschichten 10 - Willi Hoffsümmer (Hg.)